Maria Christina Holter 
    Über Ursula Hentschläger

     

    Ursula Hentschläger, gebürtige Linzerin, studierte in Wien Theater- und Kommunikationswissenschaften und erwarb im Jahr 2000 in Letzterem ihr Doktorat. Neben der bildnerischen Arbeit als Medienkünstlerin ist sie als Autorin von Experimentaltexten, als lehrende und forschende Kommunikationswissenschaftlerin und Kuratorin tätig. Auch gründete und bearbeitete sie das „Zelko Wiener Archiv“. Mit diesem Medienkünstler der „Ersten Stunde“ verband sie eine Lebens- und Arbeitspartnerschaft. Die avantgardistischen Projekte dieser überaus fruchtbaren Zusammenarbeit im realen und digitalen Raum sind unter „www.zeitgenossen.com“ zusammengefasst. Wieners plötzlicher Herztod 2006 machte bei Hentschläger eine Umorientierung und Neuerfindung als Künstlerin notwendig. Seit 2010 arbeitet sie an einem digital-fotografischen Werk und lässt die von ihr als „Quellbilder“ bezeichneten Ausgangsfotografien ihrer computerbearbeiteten Prints in die Interpretation der Wirklichkeit einfließen. Heute lebt und arbeitet Hentschläger neben Wien vor allem im Weinviertel.

    Die digitalen Bildwelten werden für die Künstlerin von „interpretiertem Erleben“ bestimmt. Eine Kamera mit starkem Teleobjektiv hat sie auf ihren Streifzügen, Wanderungen und in Alltagssituationen immer griffbereit. Die Vielzahl an Quellfotos ist also nicht, wie bei etlichen Kunstschaffenden, aus dem unerschöpflichen Bildermeer des World Wide Web ausgewählt, sondern von Hentschläger selbst aufgenommen und einem intuitiven Auswahlprozess unterworfen. Spontanität und Emotion leiten auch das fotografische Einfangen von Welt: von Gegenständen, Landschaften und vor allem von dem, was man gemeinhin als „Natur“ bezeichnet – Wolken, Wasser, Feuer, Eis, Gestein, Holz u.a.m. Der Mensch ist im Bild nicht präsent, sondern verbleibt als Vis à Vis, als Urheber*in und, in unserem Fall, als Rezipient*in. 

    Ist aus der Vielzahl der Fotografien einmal ein Quellbild, ein Sujet zur Weiterbearbeitung ausgewählt, so setzt sich der schöpferische Prozess, der der Malerei nicht unähnlich ist, am Computer fort: das digitale Layering. Bis zum gewünschten Endbild, das meisterhaft bei Christian Schepe auf weiß- oder unbeschichtetes Aludibond geprintet wird, ist es ein weiter Weg – ein Prozess kontinuierlicher Verfremdung und Veränderung; anders ausgedrückt, der künstlerischen Interpretation des ursprünglich Gesehenen und Erlebten. (…). In diesem Prozess bleibt das Quellbild Hentschlägers (…) im Kern erhalten und mit ein wenig Phantasie lassen sich die realen Ausgangssituationen auch noch im ausgestellten Kunstwerk nachvollziehen (…).

    Bei Hentschläger manifestiert sich Wirklichkeit relativ deutlich bei der Serie EISZEIT von 2020, in der bei aller Abstraktion noch das Knacken und Krachen von dünnen Eisplatten gefrorener Pfützen nachklingt; schon etwas abstrahierter in den Bildern der Serie STAMMBAUM von 2022, denen die schuppige Struktur von Birkenstämmen zugrunde liegt und völlig unergründlich im langgestreckten Querformat BREITBAND, das als Auftragswerk für einen Billiardraum entstand. Billard? Was hat „Breitband“ mit dieser Sportart zu tun? Zu Augenscheinliches wie Kö, Kugeln und Billardtisch waren bei der Bildgestaltung ein „No-Go“. Hentschläger entschloss sich aus den zahlreichen Aufnahmen

    der Räumlichkeiten jene Detailaufnahmen mit der grünen, wollenen Bespannung der Billardtischfläche auszuwählen und mit dem Vergrößerungstool in das organische Material des Textils noch weiter hineinzuzoomen. Siehe da, es taten sich die wunderbaren Strukturen der einzelnen Wollfasern auf (…). Der Titel „Breitband“ ist ein Verweis auf unser digitales Zeitalter und natürlich auch auf das Format des Bildes selbst.

    Eine letzte Arbeit möchte ich noch aus der Werkauswahl Hentschlägers herausgreifen (…). Ihnen ist beim Galerierundgang sicher das ästhetisch ansprechende, silbrig-blaue Triptychon SCHLACHTFELD aufgefallen. Der Titel „Schlachtfeld“ im Jahr 2023 – was liegt näher, als die unsäglichen kriegerischen Auseinandersetzungen zu assoziieren, die täglich weltumspannender zu werden scheinen. Syrien, Ukraine, jetzt auch noch der Sudan, um nur einige wenige der globalen Kriegsherde zu nennen. Nicht zu vergessen der Krieg, den wir alle gerne ausblenden und der unmittelbar vor den Toren der EU geführt wird: jener, gegen die Menschen, die aus ihren durch koloniale Ausbeutung, aktuelle politische Konflikte und die Klimakatastrophe nahezu unbewohnbar gewordenen Herkunftsländer über das Mittelmeer fliehend in Europa Schutz und Neuanfang suchen und stattdessen im Wasser ihr Grab finden. Nichts von all dem steckt im Ursprungsbild von „Schlachtfeld“, und doch zugleich alles – nämlich die Macht über Leben und Tod, über die vollständige Vernichtung einer Existenz. 

    Das Quellbild ist in diesem Fall der fotografischen Dokumentation einer Wurzelstockfräsung entnommen. Dem stückweisen Abmontieren eines alten, liebgewonnenen Baumes beizuwohnen, ist schon schmerzhaft genug. Vielmehr aber noch Zeugin der nahezu restlosen Verwüstung des Baumstumpfes und des mächtigen Wurzelstocks durch das maschinelle Fräsen zu werden – samt seiner von Bakterien, Pilzen, Insekten und Vögeln gezogenen Lebensspuren ist ein ohrenbetäubender Brachialakt der endgültigen Auslöschung, die jeden Neuaustrieb des Baumes, jede Wiedergeburt verunmöglicht und das ist es wohl, was ein Schlachtfeld ausmacht!

    Aber ist es überhaupt wichtig, die fotografischen Grundlagen für diese höchst expressiven, interpretationsoffenen Bilder zu kennen? Sind diese Details uns nicht fast hinderlich beim Zwiegespräch, beim Versuch uns nun unsererseits ins Bild kippen zu lassen? Jede und jeder von uns darf (…) in Hentschlägers Bilderfindungen einem individuellen Narrativ nachspüren und dies darf/soll sich durchaus (…) unterscheiden. So entsteht ein Reichtum an Wahrnehmungen, ein Reichtum an Austausch, ja, letztlich eine zwischenmenschliche Nähe über die Kunst, die uns in krisenhaften Zeiten über Vieles hinweghelfen kann.

    Aus der Einführung zur Ausstellung > Ursula Hentschläger | Birgit Sauer < von Maria Christina Holter (Galerie Gut Gasteil, 29. April 2023)

     

    Ursula Hentschläger: SCHLACHTFELD 01
    Drucke auf Aluverbund
    > Triptychon | 200x200cm
    > 01_1 + 01_2 | á 50x50cm