Die Grammatik emotionaler Zustände. Über EVBEAZ, ein Denkspiel von Ursula Hentschläger
    von Christine Czinglar (2011)

     

    EVBEAZ umfasst 32 verbale Begriffe, die mit emotionalen Zuständen verknüpft sind. Die Begriffe bestehen aus sechs verschiedenen Vorsilben und 32 verschiedenen Verben, die Bedeutung des Ganzen übersteigt die Summe seiner Teile. Allerweltsverben wie geben, kommen, finden und leben erhalten durch die Vorsilben eine ganz andere Tiefe, die gleichzeitig zu Abstraktion und Konkretisierung führt. So schwingt bei VERGEBEN eine mögliche Schuld mit, oder Ressourcen, die verteilt werden wollen, oder auch dass man sich durch sein Tun etwas vergeben könnte. ENTKOMMEN deutet die Bewegung weg von einem Zentrum an, zu dem man ohne ent- vermutlich gekommen wäre. In der Negation steckt also die Rettung, meist ist man doch heilfroh ENTKOMMEN zu sein. Ob man etwas findet oder nicht, ist dem Zufall überlassen, solange man sucht, ist man noch nicht dabei es zu finden, erst wenn man es gefunden hat, sieht man ein Ergebnis. Wer dagegen dabei ist, etwas zu ERFINDEN, begeht einen willentlichen Schöpfungsakt und hat das Endprodukt im Visier, auch wenn es nur eine Ausrede ist. Egal wann, wo und wie man lebt, das Leben ist meist ein langer Prozess, was man gerade ERLEBT ist hingegen oft schneller vorbei als man möchte. Nur als Erinnerungen sind Erlebnisse von Dauer, meist sind diese jedoch höchst selektiv.

    Stichwort Erinnerung, wie ein Memory scheint auch EVBEAZ zu funktionieren: Jeweils zwei verbale Begriffe bilden ein Paar mit demselben visuellen Motiv, die Bedeutungen wie die Motive stehen allerdings umgekehrt zueinander. Jedes Bild stellt eine bestimmte Form von Wasser dar, ob Rinnsale auf der Erde oder Tröpfchen am Himmel. Das Wasser ist ständig in Bewegung, wie das Leben permanenten Veränderungen unterworfen – alles fließt. Es kräuselt sich an Widerständen, schillert in der Sonne, schäumt vor lauter Übermut und wird zu immer neuen Formationen verweht. Die Begriffe in einem Paar scheinen in einer Opposition zueinander zu stehen, aber für Schwarz-Weiß- Malerei ist das Bedeutungsspektrum zu differenziert. Das lässt sich oft nicht einmal mit dem reinen Austausch einer Vorsilbe bewerkstelligen, Sprache hat ein Eigenleben: Während BEGLÜCKEN ein Mehr an Glücksgefühl verspricht, betont missglücken eher den Aspekt des Schiefgehens. So kann man ohne logischen Widerspruch darüber beglückt sein, dass einem etwas missglückt ist. Die Skala von BEGLÜCKEN bis ENTZAUBERN spannt jedoch ein noch breiteres Feld von emotionalen Assoziationen auf: So herrlich es ist, verzaubert zu sein, es kann auch wohltuend sein, einen Bann zu brechen, der seit Jahren mechanisch mit derselben Melodie zum gleichen Tanz aufruft.

    Die Begriffspaare entstehen durch die Variation der Vorsilben, neben ER-/VER- und BE-/ENT- kommen auch AB- /ZU- zum Einsatz, so erschließt sich auch das Akronym EVBEAZ. Der Unterschied sticht sofort ins Auge: Ab und zu können auch allein stehen und eine eigene Bedeutung tragen, wie in ab heute, zu Hause, zu euch, die Tür ist zu. Als Vorsilben sind sie betont und trennen sie sich immer wieder gern vom ihrem Stammverb: Sie LEHNT seinen Vorschlag AB, denn er SAGT ihr nicht ZU. Prominenz und Autonomie schlagen sich jedoch nicht unbedingt in einer handfesten Bedeutung nieder: Bei ZUGREIFEN spürt man eine Bewegung weg vom Zentrum, bei ZULASSEN kommt die Bewegung auf das Zentrum zu, dessen Tür jedoch alles andere als geschlossenen ist. ABFANGEN scheint einen Widerstand, eine Unterbrechung zu signalisieren, ABSICHERN will dagegen etwas Vorhandenes erhalten. Wie bei den anderen Vorsilben ist der semantische Beitrag eher abstrakt und deutet oft auf die Abgeschlossenheit eines Geschehens hin.

    EVBEAZ geht viel weiter als ein Memory: Man ist nicht auf das Auffinden eines Paars beschränkt, die Wort- und Wasserbilder lassen sich völlig frei zu subjektiven Bedeutungsfeldern kombinieren. Wie das Leben folgt die Sprache nur zum Teil einem vorgegebenen Bauplan, der Rest entsteht durch unser Tun, indem wir leben und sprechen. So können wir unseren Platz im Spiel immer wieder neu finden: Woher kommen wir und wohin wollen wir gehen?

    Abb.: Ursula Hentschläger: EVBEAZ (2010)